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Interview in der Berner Zeitung

Anlässlich der Tagung "Das Konzertpublikum der Zukunft" vom 23. November 2019 machte die BZ mit mir ein Interview. Es geht um überlieferte Formen, wie man Klassik praktiziert. Und um Bewegungen rund um das Thema 'Stammpublikum und die Generation Y'.

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Warum treffen wir uns im wiedereröffneten Casino?

Der Ort symbolisiert die Bemühungen, die man in dieser kleinen Stadt unternimmt, um die Klassik zu modernisieren.

Zum Beispiel mit dem Konzert des Berner Symphonieorchesters mit Lo & Leduc. Waren Sie dort? Nein, es entspricht nicht meinem persönlichen Geschmack, aber das spielt keine Rolle. Es ist ein sehr seriös ausgearbeiteter Versuch, das Haus zu öffnen. Das Casino bietet ein gemischtes Programm, bei dem auch populäre Sachen Platz haben.

Und doch ist das Publikum an einem BSO-Konzert fast durchwegs grauhaarig.
Da gibt es auch klare Zahlen dazu: 60 Prozent des Klassikpublikums ist über 50, und von denen wiederum ist der grösste Teil über 70. Wobei manche das kein Problem finden.

Warum nicht?
Wenn man der Meinung ist, dass alle Leute halt erst an Klassikkonzerte gehen, wenn sie älter werden, dann gibt es kein Problem, weil ja immer neue alte Menschen nachkommen.

Aber?
In der Forschung gibt es auch viele Studien, die besagen: Das ist die letzte Generation, die so funktioniert hat. Klassikkonzerte gehören nicht mehr zu einem bestimmten Verhalten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.

Und, was trifft zu?
Ich denke, man darf sich nicht darauf beschränken, zu warten, ob die Forschung zutrifft oder nicht. Man muss gewappnet sein. Und die Konzerte von BSO und Lo & Leduc sind ein möglicher Weg von vielen. Damit sollen klar die Jüngeren, die 20- bis 40-jährigen, angesprochen werden.

Auch wenn die Musiker dabei Frack tragen?
Der Frack ist sowieso ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Damals hat man ihn aus dem Grund eingeführt, Standesunterschiede zu beseitigen. Heute findet genau das Gegenteil statt: Er symbolisiert Abgrenzung.

Aber junge freie Ensembles treten schon lange nicht mehr im Frack auf, sie kommen ganz einfach in Schwarz. Eine gewisse Neutralität ist gut, damit man sich auf die Musik konzentrieren kann. Ich glaube aber, die Kleider sind gar nicht der Hauptpunkt.

Was dann?
Der soziale Aspekt: wie die Akteure auf der Bühne sich untereinander verhalten; was sie ausstrahlen, wie sie mit dem Publikum kommunizieren. Klassik kommt im Gegensatz zu Jazz, Rock oder Pop aus der Aristokratie.

Und das merkt man an den Umgangsformen. Das schreckt verständlicherweise viele ab. Und da reicht es nicht, wenn man andere Kleider anzieht und Lo & Leduc auf die Bühne holt. Es ist, als ob die Französische Revolution in der Klassik noch nicht stattgefunden hätte.

Wie meinen Sie das?
Das System, auch an den Hochschulen, hat sich über Jahrhunderte kaum verändert. Das Aristokratische und Distinktion werden nach wie vor gepflegt.

Und wo fängt dieses System an?
Das sind überlieferte Formen, wie man Klassik praktiziert. Und diese haben sich immer wieder verändert, aber in den letzten Jahrzehnten kaum mehr. Zu Mozarts Zeiten war ein klassisches Konzert ganz anders als heute.

Da war es viel lauter, die Leute haben zusammen geredet, sind herumgelaufen. Die Ouvertüre war extra zu dem Zweck eingerichtet, dass das Publikum zur Ruhe kam. Jetzt versuchen junge Ensembles da wieder etwas Wind reinzubringen.

Und stossen bei älteren Leuten auf Ablehnung.
Solche Ensembles bauen sich gezielt ein neues Publikum auf. Weil sie das Problem der grossen Institutionen nicht haben: einem Stammpublikum gerecht werden zu müssen. Orchester wie das BSO sind in der Zwickmühle.

Sie wollen das alte Publikum nicht vergraulen und gleichzeitig auch ein neues finden. Das Stammpublikum aber hat das Gefühl, ihm allein gehöre alles – was natürlich nicht stimmt.

Wie sähe Ihr perfektes Konzertpublikum der Zukunft aus?
Es gibt zwei Varianten. Das eine wäre ein sehr durchmischtes Publikum, das die ganze Gesellschaft abbildet: nach Alter, Bildung, Herkunft et cetera. Und das andere sind ganz spezifische Publika: Eines wäre das Stammpublikum, ein anderes könnten eben junge Leute sein. Man konzipiert dann Konzerte nur für diese einzelnen Zielgruppen.

Geben Sie ein Beispiel.
Nehmen wir das junge Publikum. Es gibt Ensembles, die machen Klassikkonzerte am späten Abend in total moderner Architektur, mit einer Bar, wo man während des Hörens etwas trinken kann.

Sollte man die alten Komponisten nicht mehr spielen?
Es gibt eine Handvoll Werke und Komponisten, die überall auf der ganzen Welt gespielt werden – in all diesen Konzerthäusern, die immer gleich aussehen. Das reicht von Mozart über Debussy bis maximal Schostakowitsch.

Das sind alles super Komponisten. Aber sie sollten mit anderer Musik ergänzt werden. Oder man erweitert sie, öffnet sie, spielt auch mal einen Beethoven mit E-Gitarre verstärkt.

Warum?
Weil Zuhörer zu Beethovens Zeiten noch diesen Wow-Effekt verspürten. Und diesen Effekt sollte man heute wieder herstellen. Doch heute braucht es dazu mehr, weil wir uns seit Jahrzehnten aus der Rockmusik ganz andere Lautstärken und Effekte gewöhnt sind.

Wie macht man das?
Ein wichtiger Faktor, der schuld ist, dass ein Klassikkonzert nicht mehr den Wow-Effekt hat, ist die fehlende Überraschung. Meistens weiss man bei einem Klassikkonzert ganz genau, was einen erwartet.

Ich spreche nicht von Effekthascherei. Wenn eine Überraschung gut gemacht ist, hat sie wirklich eine tiefere Bedeutung. Sie hat etwas mit der Musik zu tun und erhöht die Aufmerksamkeit.

Braucht es also mehr Punks in der Klassik? Es reicht auch schon ein anderes Setting: Wenn das BSO auf dem Bundesplatz spielt, hören Tausende Leute sehr emotional berührt zu. Die Musik kann selber total wild sein. Beethoven beispielsweise, das war ein wilder Typ!

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Fuer Mehr Wow Effekt In Der Klassik  Bz Berner Zeitung Seite 1